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Digitale Nomaden – ein nicht sesshaftes “Schnorrervolk”?

Digitale Nomaden

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Neuer Lifestyle

Neue Technologien bringen auch neue Lebensstile hervor.

Freigeister wie die digitalen Nomaden führen ein Dasein, das ein bisschen an jenes der Hippies erinnert, jedoch auch mit dem Gebaren großer Konzerne oder gar von Staatsverweigerern verglichen werden kann. Tatsächlich tauschen sie aber nur die Abhängigkeit von staatlichen Einrichtungen gegen die von großen digitalen Plattformen. Im Interview beleuchtet Heidrun Allert von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel die Grundlagen und Hintergründe dieses Phänomens.

Was können wir uns unter den digitalen Nomaden vorstellen?

Digitale Nomaden sind Individuen, mittlerweile aber auch ganze Familien, welche ihren Hauptwohnsitz in dem jeweils angestammten Heimatland, wie z.B. Österreich oder Deutschland, aufgeben, ihren Lebensunterhalt fast ausschließlich mit digitalen Dienstleistungen bzw. Handel bestreiten und ortsunabhängig leben wollen. Gewählte Aufenthaltsgebiete sind oftmals landschaftlich wie klimatisch reizvolle Regionen, so z.B. Thailand, Teneriffa oder auch Küstengebiete in Brasilien. Digitale Nomaden wandern daher nicht im klassischen Sinne in eine dieser spezifischen Regionen aus und bauen sich vor Ort eine neue Existenz auf, sondern suchen sich weltweit mehrere Hotspots, zwischen denen sie dann mehr oder weniger regelmäßig hin- und herpendeln. Das Nomadentum hat mehrere Beweggründe. Zum einen verfügen die reisenden ja über keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in den Zielstaaten, zum anderen lieben sie natürlich die immer wiederkehrenden Ortswechsel. Der wesentlichste Grund liegt jedoch in der Strategie des digitalen Nomadentums selbst, nämlich Geld in einkommensstarken Ländern zu verdienen und möglichst in schönen, aber mit niedrigen Unterhaltskosten gesegneten Regionen auszugeben. Digitale Nomaden verhalten sich demnach ähnlich wie Börsenspekulanten, die Kurs-, Zins- oder Preisunterschiede zum selben Zeitpunkt an verschiedenen orten mit Gewinnabsicht ausnutzen. Daher rührt auch der Begriff „Geo-Arbitrage“, also die effiziente Ausnutzung von weltweit unterschiedlichen Lohnniveaus und Lebenshaltungskosten. Die Entscheidung, ortsunabhängig zu leben, wird allerdings meist sehr persönlich begründet: mehr Familienzeit beider Elternteile, Achtsamkeit und Bedürfnisorientierung der eigenen Familienmitglieder, ein „healthy lifestyle“ und eine bessere Welt schaffen zu wollen.

Funktioniert dieses Modell weltweit?

Selbstverständlich nicht. Voraussetzung ist ein finanzstarker, gut regulierter Markt in Herkunftsländern wie Deutschland, Österreich und der Schweiz, eine Staatsbürgerschaft, die eine große Reisefreiheit ermöglicht, und sichere Umgebungen an Aufenthaltsorten weltweit. Deutschsprachige digitale Nomaden sind zusätzlich durch die Sprachbarriere geschützt und nicht so übermächtigem Konkurrenzdruck ausgesetzt wie digitale Wanderarbeiter in englischsprachigen Regionen der Welt. Das Modell funktioniert auch nur, solange gröbere Ungleichgewichte in Einkommen und Lebenshaltungskosten zwischen verschiedenen Regionen herrschen. Mitunter wird Digitalisierung ja als ein Instrument verstanden, um ökonomisch schwächer entwickelten Gesellschaften Entwicklungspotenzial zu eröffnen. Digitale Nomaden, wie wir sie jetzt beobachten, können aber naturgemäß wenig Interesse an der Weiterentwicklung ihres Gastlandes haben. Steigende Preise für Infrastruktur, Produkte, Dienstleistungen würden ihnen ihre Geschäftsgrundlage entziehen. Das konterkariert auch ein wenig die durchaus hehren Motive, von denen sich zahlreiche digitale Nomaden geleitet sehen. Mehr Freiheit, finanzielles Wohlergehen etc. sind dann nur für eine ausgewählte Gruppe an Menschen möglich.

Was bewegt einen digitalen Nomaden, alle Zelte abzubrechen und sich ins Ungewisse zu stürzen?

Die Motivationen sind sehr unterschiedlich. Viele Menschen sehen sich heutzutage in unsinnigen, eintönigen und auch ökonomisch nicht mehr zufriedenstellenden Arbeitsverhältnissen gefangen. Eine Hebamme, die trotz Nachtschichten sich und ihre drei Kinder nicht mehr ernähren kann und aus zeitlicher Überlastung keine Zeit mehr für sie hat, ist ebenso als Nomadin unterwegs wie Mitarbeiter in sogenannten Bullshit-Jobs. Vertreten ist selbstredend auch die Gruppe der Reiselustigen. Digitales Nomadentum, und das ist bezeichnend, lebt jedoch neben den genannten Aspekten sehr stark aus einer Geisteshaltung bzw. dem Mindset des stark Libertären, des Individualismus, ja des Turbokapitalismus heraus. Viele Nomaden lösen sich mit vollster Absicht aus dem gesellschaftlichen Gefüge und trachten beinahe ausschließlich auf die Maximierung der eigenen Lebensqualitäts- bzw. finanziellen Rendite. Sie brechen gewissermaßen die Strategien von multinationalen Konzernen auf ihre persönlichen lebensumstände herunter und setzen sie in die Tat um: In Ländern mit möglichst günstigen Herstellungskosten fertigen, in Hochlohnländern verkaufen. Das betrifft auch Fragen der Steuerpflicht oder überhaupt die Diskussion, was man der Gesellschaft, dem Staat zurückgibt, die ja mit gemeinschaftlichen Mitteln erst die Märkte schaffen müssen, in denen digitale Nomaden Rendite abschöpfen können.

Den gesamten Artikel finden Sie in der aktuellen Ausgabe des Reports.

Foto: Mike Glegg Photography/ Wikipedia

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