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House of Cards in der Alpenrepublik
Mit der neuen türkis-grünen Bundesregierung hat sich Österreich von der alten politischen Farbenlehre verabschiedet. Mehr noch. Mit den Grünen zieht erstmals eine politische Partei in die Regierung ein, die nicht den drei ideologischen Hauptströmungen des 20. Jahrhunderts zuzuordnen ist. Auch konnte die ÖVP unter Sebastian Kurz ihre Macht endgültig zementieren. Das türkis-grüne Experiment hat gute Chancen, zu einem europäischen Vorzeigemodell zu werden. Ob es jedoch lange halten wird, hängt von vielen Faktoren ab. Über die Anatomie einer politischen Zeitenwende.
Von Stefan Rothbart
Für Politologen und Historiker sind die letzten beiden Jahre der österreichischen Innenpolitik geradezu faszinierend. Selten waren politische Entwicklungen so unvorhersehbar und selten veränderte sich in so kurzer Zeit so viel. Allein die spektakuläre Neuerfindung einer bereits mit beiden Beinen hinkenden Volkspartei durch Sebastian Kurz hatte wohl niemand so kommen sehen. Es gab Zeiten – und sie sind gar nicht lange her –, da war es durchaus realistisch, von einem Bundeskanzler HC Strache zu sprechen. Heute schier undenkbar. Zwischen 2016 und 2017 war die FPÖ kurz davor, den Marsch durch die Institutionen anzutreten und stärkste Kraft im Land zu werden. Beinahe wäre Norbert Hofer Bundespräsident geworden und Anfang 2017 verbuchte die FPÖ bundesweit noch Umfragewerte über 30 Prozent. Die ÖVP drohte damals unter 20 Prozent zu fallen. Dann kam im Mai 2017 Sebastian Kurz ans Ruder und schlagartig änderte sich alles. Die Volkspartei stieg vom dritten Platz plötzlich auf den ersten auf und tauschte mit den Freiheitlichen quasi die Rollen. Ein politischer Disruptionsprozess hatte stattgefunden. Er sollte nicht der letzte sein.
Bei den Nationalratswahlen im Oktober 2017 wurde Österreich von drei Großparteien heiß umfehdet und wild umstritten. ÖVP, SPÖ und FPÖ lieferten sich im Wahlkampf ein dichtes Kopf-an-Kopf-Rennen. Das Ergebnis verkleinerte zunächst die Parteienlandschaft. Mit dem Wegfall des Teams Stronach konsolidierte sich das rechte Lager seit Jörg Haiders BZÖ-Abspaltung wieder endgültig und mit den Grünen implodierte eine Partei, die kurz zuvor ihr 30-jähriges Bestehen gefeiert hatte und seit 1986 ununterbrochen im Parlament vertreten war. Mit Peter Pilz blieb ein „Quasi-Ableger“ der Ökopartei mit einer Rumpfmannschaft im Nationalrat vertreten, deren politisches Ende sich aber alsbald darauf ebenfalls abzeichnen sollte. Die Regierungskoalition war aufgelegt. Eine Zusammenarbeit von ÖVP und SPÖ war undenkbar geworden. Inhaltlich als auch rechnerisch lief alles auf Schwarz-Blau hinaus. Als die Bundesregierung Kurz I Ende 2017 angelobt wurde, schien alles danach auszusehen, als ob sich diese Koalition für die nächsten zehn Jahre die Macht sichern könnte. Die Opposition versank zeitgleich in Bedeutungslosigkeit. Nur eineinhalb Jahre später kam die Ibiza-Affäre und die politischen Karten waren urplötzlich wieder völlig neu gemischt.
Der grüne Phönix
Werner Kogler war wohl der richtige Mann zur rechten Zeit am rechten Ort. Unverhofft übernahm er nach der Wahlschlappe von 2017 die in Auflösung begriffene Bundespartei der Grünen, führte inhaltliche, personelle und strategische Reformen durch und schaffte das „größte Comeback seit Lazarus“. Mit der Dynamik der Klimabewegung rund um Greta Thunberg im Rücken schaffte die Ökopartei bei den Neuwahlen im Herbst 2019 mit wenig Geld, aber viel Herzblut ihr bisher bestes Ergebnis bei nationalen Wahlen und landete wenig später in einer türkis-grünen Regierungskoalition. Der Ersten ihrer Art.
Politische Neuvermessung
Mit der Neuwahl vom Herbst 2019 und der grünen Regierungsbeteiligung sind die politischen Verhältnisse im Land vorerst neu geordnet worden. Anstatt der zuletzt relativ gleich starken drei Großparteien ist in Wahrheit nur eine einzige, die ÖVP, übrig geblieben. Daneben existieren nun (laut den letzten Umfragewerten) mit den Grünen, der SPÖ und der FPÖ drei relativ gleich starke Mittelparteien und mit den NEOS eine Kleinpartei. Erstmals ist mit den Grünen auch eine Partei in die Regierung gekommen, die keiner der drei politischen Hauptideologien, dem Liberalismus, dem Konservatismus und dem Sozialismus, zuzuordnen ist, die seit dem 19. Jahrhundert fixer Bestandteil der österreichischen Parteienlandschaft sind. Die grüne Ideologie ist in vielerlei Hinsicht eine Synthese, eine Sammelbewegung aus allen drei traditionellen Lagern. Einerseits kommt der Ökologiegedanke aus dem konservativen Umfeld, der das „Bewahren“ in den Vordergrund stellt. Andererseits speist sich die grüne Politik auch aus gesellschaftsliberalen und sozialpolitischen Themen. Sie schafft es, die alten Gegensätze zwischen Wirtschaft und Sozialpolitik mit dem Umweltgedanken zu verbinden und mit einer ökologisch nachhaltigen Gesellschaft eine Lösung für die Frage der sozialen Gerechtigkeit anzubieten. Die propagierte „nachhaltige Wirtschaft“ ist in gewisser Weise auch ein dritter Weg zwischen Wirtschaftsliberalismus und Sozialismus.
Das „Beste aus zwei Welten“ macht die Grünen politisch flexibel. Ideologisch gibt es sowohl zum Konservatismus als auch zum Sozialismus und Liberalismus Anknüpfungen. Manche werden feststellen, dass sie die Ökopartei bisher falsch eingeordnet haben, und vermutlich entdecken die Grünen gerade auch an sich selbst völlig neue Seiten. Sie sind im Grunde weder vollständig links noch vollständig liberal. Sie sind es jeweils dort, wo es im Sinne der Ökologie pragmatisch oder geboten erscheint. Das kann einerseits die Grundlage für eine neue Volkspartei sein, kann aber auch zur Zerreißprobe führen. Wirtschaftsliberal, solange es nachhaltig ist, und sozial, solange es ökologisch gerecht ist. Das sieht man am besten in der grünen Budgetpolitik, wo man für Sparsamkeit und Kontrolle einsteht und neue Schulden nur akzeptiert, wenn es der Umwelt und dem Klima nützt.
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Foto: iStock.com/Zerbor
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